Achim. Ein Reisebus verunglückt, eine S-Bahn prallt auf einen Güterzug, ein Pilot stürzt beim Landeanflug auf den Bremer Flughafen ab oder eine ganze Schulklasse atmet auf der Flucht vor einem Feuer giftige Rauchgase ein. Über solche Horrorszenarien denkt niemand gerne nach, dennoch müssen die Medien in regelmäßigen Abständen über solche Ereignisse mit vielen Betroffenen berichten. Damit im Ernstfall eine bestmögliche Patientenversorgung sichergestellt ist, hat der DRK-Kreisverband Verden eine neue Behandlungsplatzstruktur erarbeitet.
Immer wenn Dutzende Menschen erkrankt oder verletzt sind, spricht man im Rettungsdienst-Jargon von einer Großschadenslage. Solche Katastrophen, beispielsweise ausgelöst durch schwere Verkehrsunfälle, stellen an die Rettungsdienste höchste Anforderungen. Möglichst schnell müssen Hunderte Retter, vom Helfer für die Logistik bis zum leitenden Notarzt, alarmiert und zum Einsatzort gebracht werden.
Außerdem werden tonnenweise Equipment in womöglich unwegsamem Gelände benötigt, vielleicht auch noch bei schwieriger Witterung.
Im Landkreis Verden stellt das Deutsche Rote Kreuz den Rettungsdienst sicher. „Natürlich gab es schon immer Konzepte, wie bei solchen Großereignissen zu verfahren ist“, stellt Andreas Lohmann klar. Aber der Gesamtleiter der Sondereinsatzgruppen, kurz SEG, merkt an, dass ständig neue Erfahrungen gesammelt werden.
Nicht zu verachten sind auch die Fortschritte in der Notfallmedizin. Aus diesem Grund hat der DRK-Kreisverband Verden die Strukturen überarbeitet. Nachdem sich die Verantwortlichen zunächst mit der Theorie auseinandersetzen mussten und eine Vielzahl an Materialien beschafft hatten, konnte am Sonnabend der neue Behandlungsplatz im Rahmen einer kleinen Übung auf dem Gelände des Rettungszentrums Nord vorgestellt werden. Dabei schauten den Rettungskräften Vertreter anderer Hilfsorganisationen, des Landkreises und der Polizei über die Schultern.
Das neue Konzept sieht vor, am Ort des Geschehens über längere Dauer einen Behandlungsplatz als zentrale Versorgungseinrichtung zu betreiben. „Es kann eine hohe Anzahl Verletzter oder Erkrankter gleichzeitig notfallmedizinisch versorgt und anschließend in die Krankenhäuser zur stationären Weiterbehandlung transportiert werden“, sagt Andreas Lohmann. Das Konzept garantiert mindestens die Behandlung von 30 Personen, aber ausgelegt ist alles auf 50 Opfer.
Am Aufbau und Betrieb dieses Behandlungsplatzes, der eine Fläche von mindestens 60 mal 30 Metern benötigt, ist nicht nur das Deutsche Rote Kreuz beteiligt. „Wie in vielen anderen ehrenamtlichen Bereichen stehen uns immer weniger Kräfte zur Verfügung“, sagt der SEG-Gesamtleiter. Aus diesem Grund hat das Deutsche Rote Kreuz Gespräche mit Vertretern der Johanniter Unfallhilfe, der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft und dem Technischen Hilfswerk geführt. „Mit diesen drei Hilfsorganisationen wird der Behandlungsplatz in enger Zusammenarbeit betrieben.“
Ohne fremde Unterstützung könnte es werktags zwischen 8 und 16 Uhr zu lange dauern, genügend Helfer am Unglücksort zu haben. Nach den Planungen der Verantwortlichen sind 107 Einsatzkräfte erforderlich, um den Behandlungsplatz effektiv betreiben zu können. „Klingt viel, ist es auch, aber man muss sich vor Augen halten, dass diese 107 vom einfachen Helfer für Logistik bis zum leitenden Notarzt alles beinhalten“, sagt Lohmann. Neben einer Führungsstruktur sind beispielsweise Trägertrupps erforderlich, die die Verletzten von Zelt zu Zelt bringen.
Alarmiert werden auch die Mitglieder der DRK-Rettungshundestaffel. „Das geht, weil unsere Helfer zwar alle ein Fachgebiet haben, auf breiter Ebene aber multifunktional ausgebildet sind und somit eine Sprache sprechen“, erklärt Werner Jahn, DRK-Vorsitzender im Landkreis Verden. Er beschreibt die vielen kleinen Sondereinsatzgruppen als wichtiges Rückgrat. „Wir im Landkreis Verden waren mit die ersten, die solche kleinen Einheiten gebildet haben. Inzwischen schauen sich das andere Landkreise bei uns ab. Wieso sollte man das Rad auch neu erfinden“, sagt Jahn.
Nach der Rettung vom Unglücksort – dabei kann auch die Feuerwehr zum Einsatz kommen – werden die Patienten in einem gesonderten Zelt von einem Notarzt gesichtet und registriert. Jedes Opfer wird je nach Schweregrad der Verletzung in eine von vier Kategorien eingeteilt. Dabei fällt dem Arzt auch die schwere Aufgabe zu, einen Patienten der praktisch keine Überlebenschance hat, aufzugeben, um die knappen Resourcen Opfern zukommen zu lassen, die eine reelle Wahrscheinlichkeit auf Heilung haben.
Je nach Schweregrad der Verletzung tragen Helfer die Opfer in eines von vier Zelten, in denen eine qualifizierte Behandlung erfolgt. Zeitgleich wird ein Transport in ein passendes Krankenhaus organisiert. Sollten geeignete Gebäude in der Nähe sein, greift Andreas Lohmann auch gerne auf diese statt auf die Zelte zurück. Bei Übungen hat er mit diesem Konzept stets gute Erfahrungen gesammelt. Allerdings lassen sich die neuen Zelte dank Druckluft binnen einer Minute aufstellen.
Das Technische Hilfswerk, Ortsgruppe Verden, versorgt die medizinischen Geräte in den Zelte mit Elektrizität und leuchtet den Platz aus. „Im Ernstfall bauen wir eine Netzersatzanlage auf. Diese ist kurzschlusssicher, schließlich darf kein medizinisches Gerät ausfallen“, sagt THW-Mitglied Andreas Lindhorst.
Der reguläre Rettungsdienst ist zwar in das Konzept des Behandlungsplatzes mit eingebunden, aber weit weniger als es ein Laie vermuten würde. „Das liegt daran, dass der Rettungsdienst im Landkreis Verden während einer Großschadenslage auch weiterhin sichergestellt sein muss, denn die Unfälle machen natürlich keine Pause für uns“, erklärt DRK-Vorsitzender Werner Jahn.